
Letzthin beim Personalessen sass eine junge Assistenzärztin neben mir. Ich kannte sie nur vom Sehen, fand sie aber immer schon sympathisch, war fasziniert von ihrer makellos reinen Haut. Sie erzählte mir, sie sei gar nicht mehr so jung, sie habe bereits ein Wirtschaftsstudium hinter sich und sei eigentlich immer noch auf der Suche nach ihrer Bestimmung. Irgendwie käme sie sich vor wie Frederick aus dem Bilderbuch von Leo Lionni. Ob ich den kenne? Da war dieser magische Moment der Übereinstimmung und ich musste lachen: Ja, klar - auch mich würde der Frederick schon seit vielen Jahren begleiten und mir immer wieder Mut machen, so zu sein, wie ich bin.
Die Geschichte geht so:
Frederick ist eine Maus. Es ist Herbst und alle seine Mitmäuse sammeln fleissig Futter für den Winter. Frederick jedoch sitzt da und schaut in die Welt hinaus.' Frederick, was machst du da?' fragen ihn die Mäuse vorwurfsvoll. 'Ich sammle Sonnenstrahlen.' antwortet Frederick. Die Mäuse sammeln weiter Vorräte und Frederick sitzt da. Es wird Winter und alle Mäuse ziehen sich zurück in ihr Winterquartier. So lange die Vorräte reichen, fühlen sie sich wohlig warm und zufrieden. Dann jedoch ist auch die letzte Nuss aufgegessen und die Mäuse werden unruhig. Da beginnt Frederick von den Sonnenstrahlen zu erzählen, den Farben der Blumen, der Wiesen und Felder. Zum Schluss trägt er noch ein Gedicht vor. Die Mäuse rufen ganz begeistert: 'Frederick, du bist ja ein Dichter!'
Die Geschichten, die mir meine Grossmutter jeweils von früher erzählte, gehören, wie schon an anderer Stelle erwähnt, zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Wenn ich mir etwas Gutes tun möchte, dann setze ich mich jeweils hin, stricke oder nähe und höre Hörbücher. Das ist für mich ein echtes Erholungsprogramm - Wellness pur. Vor zwei Wochen bin ich auf das Hörbuch von Hape Kerkeling gestossen: 'Der Junge muss an die frische Luft'. Ein Glückstreffer. Dieses Hörbuch, eine Autorenlesung, hat mich wunderbar genährt und gestärkt. Kerkeling ist ein exzellenter Beobachter. Seine heitere Stimme führte mich sicher durch schwierige Passagen sowohl seiner Biographie, als auch meiner derzeitigen Gefühlswelt.
In einer Zeit in der das Machen so wichtig geworden ist, tun Erzählungen, die uns ruhig werden lassen und von innen erwärmen besonders gut. Ich bin dankbar für Herbst und Winter. Die Natur zeigt uns, dass es auch die Ruhe braucht, das Sich-Zurück-Ziehen.
Nehmen wir uns diese 'Jahres'-Aus-Zeiten, damit all die gesammelten Geschichten der vergangenen Monate sich ordnen und die inneren Farben aufleben können. Bewahren wir sie für unsere späten Jahre auf, wenn es einmal kälter werden sollte.
Ach, übrigens, die Assistenzärztin und ich haben dann auch noch herausgefunden, dass wir denselben Geburts-Tag haben.