Kürzlich hat mir meine 102-jährige Freundin telefoniert. Meistens denke ich vorher öfters an sie und sie spürt es oder umgekehrt. Es ging ihr besser als beim letzten Anruf. Sie meinte, sie müsse einfach akzeptieren, was ist. Wenn sie das sagt, dann ist das keine leere Floskel, die man so dahinsagt. Nein, wenn sie so etwas sagt, dann spüre ich, dass sie aus ihrer Situation, wie sie momentan ist, das Beste macht. Sie sieht fast nichts mehr und hört nicht mehr gut. Gehen könne sie nur noch mithilfe des Rollators. Sie könne nicht mehr Zeitung lesen, was sie früher sehr gerne gemacht hat. Telefonieren gehe gerade noch so, man müsse halt deutlich mit ihr sprechen. Bis vor ca. einem Jahr hatte sie noch ein eigenes Hochbeet mit Blumen gepflegt. Auch dies musste sie nun abgeben, weil ihre Kraft dazu nicht mehr ausreicht. Sie lachte plötzlich und sagte: 'Etwas worüber ich sehr froh bin, funktioniert noch sehr gut - mein Gedächtnis.' Sie beweist es auch gleich, indem sie mir gezielt Fragen stellt und von Leuten erzählt, die wir beide kennen. Dann erzählt sie, von Blumenstöckchen, die sie bereits letztes Jahr oder vor einigen Monaten bekommen habe und dass diese bis in den Sommer hinein geblüht hätten. Da ist sie wieder, die ganze Lebensfreude, die Liebe zur Natur. Ich kann sie durchs Telefon hindurch spüren. Sie verbindet uns über die Altersgrenze hinweg. Diese Frau ist 50 Jahre älter als ich und es spielt überhaupt keine Rolle. In diesem Moment verstehen wir uns und sind beide glücklich.
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